Skin Picking
Skin Picking bezeichnet das wiederholte Bearbeiten der eigenen Haut. Dazu gehören z.B. das Quetschen von Pickeln oder Mitessern, das Abreißen loser Haut oder auch das Aufkratzen alter Wunden, Krusten oder auch gesunder Haut.
In einem gewissen Ausmaß bearbeiten nahezu alle Menschen ihre Haut. Dieses Verhalten ist also nicht automatisch Teil einer psychischen Erkrankung!
Manche Menschen bearbeiten die eigene Haut jedoch so häufig bzw. intensiv, dass Hautverletzungen entstehen und sie unter dem Verhalten und seinen Folgen leiden. Trotzdem können sie das Skin Picking nicht ohne Weiteres einstellen. In diesem Fall spricht man - nach Abklärung weiterer Faktoren - von "Dermatillomanie" (engl. "Skin Picking Disorder") oder auch "Pathologischem Skin Picking".
In der Umgangssprache wird das Bearbeiten der Haut übrigens manchmal auch "Knibbeln", "Pulen" oder "Piddeln" genannt.
Ich beschränke mich auf die Begriffe "Skin Picking" und "Bearbeiten der Haut" und verwende diese synonym.
Diagnose "Dermatillomanie"
Dermatillomanie ("Pathologisches Hautzupfen/-quetschen") wurde 2013 als eigenständige Diagnose in das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (fünfte Auflage; DSM-5) aufgenommen und damit offiziell als psychische Störung anerkannt.
(Das DSM-5 wird im US-amerikanischen Gesundheitssystem genutzt, um psychische Störungen einzuordnen. Es spielt aber auch in Deutschland eine große Rolle und wird insbesondere in der Forschung verwendet.)
Als Kriterien für das Vorliegen einer Dermatillomanie sind im DSM-5 folgende Kriterien festgelegt worden:
- Wiederholtes Bearbeiten der Haut, das zu Hautverletzungen führt
- Erfolglose Versuche, das Bearbeiten der Haut zu unterbinden
- Das Bearbeiten der Haut verursacht Leiden und Einschränkungen im sozialen oder beruflichen Bereich
- Das Bearbeiten der Haut ist nicht ausschließlich Folge einer medizinischen Ursache (z.B. einer Hautkrankheit) und ist nicht besser durch eine andere psychische Störung zu erklären
Im DSM-5 ist Dermatillomanie der Kategorie "Zwangsstörung und verwandte Störungen" zugeordnet und wird daher als sogenannte "Zwangsspektrumsstörung" bezeichnet. Die Störung ist aber nicht mit einer Zwangsstörung gleichzusetzen.
Dermatillomanie als Diagnose im deutschen Sprachraum
Das DSM-5 ist zwar in der Forschung anerkannt, aber im deutschen Gesundheitssystem wird die International Classification of Diseases (ICD) genutzt.
Aktuell wird meist noch die 10. Auflage verwendet (ICD-10), in der Dermatillomanie noch nicht als eigenständige Diagnose aufgeführt ist. Dort kann für Dermatillomanie derzeit nur die Diagnose "Impulskontrollstörung, nicht weiter spezifiziert" vergeben werden.
Allerdings ist seit Januar 2022 die 11. Auflage des ICD (ICD-11) gültig! Hier ist Dermatillomanie ebenfalls als eigene Störung aufgeführt - ebenfalls in der Kategorie der Zwangsspektrumsstörungen (innerhalb der Unterkategorie "Body-focused repetitive behavior disorders" - Störungen mit Bezug auf repetitives körperbezogenes Verhalten).
Wichtig: Es gibt eine Übergangsfrist von 5 Jahren, in denen sowohl das ICD-10 als auch das ICD-11 gültig sind.
Bei dieser Situation ist es nicht verwunderlich, dass noch viel Verwirrung herrscht, ob Dermatillomanie (pathologisches Skin Picking) nun eine Impulskontrollstörung oder zum Zwangsspektrum gehört. Manchmal wird Skin Picking fälschlicherweise auch als selbstverletzendes Verhalten angesehen (Beitrag dazu s.u.).
Generell kann man sich merken: Dermatillomanie wird aktuell als Zwangsspektrumsstörung eingeordnet (...was nicht bedeutet, dass sie mit einer Zwangsstörung gleichzusetzen ist).
Zu diesem Thema wird aber noch viel diskutiert - es sind weitere Studien notwendig, um abschließend klären zu können, welcher Kategorie Dermatillomanie am sinnvollsten zugeordnet werden sollte.
Symptome: Wie zeigt sich Dermatillomanie?
Verhalten: Das Bearbeiten der Haut
Personen mit Dermatillomanie bearbeiten wiederholt und regelmäßig die eigene Haut - und zwar in einem Ausmaß, das das übliche Hautpflegeverhalten deutlich übersteigt.
Mit dem "Bearbeiten der Haut" sind viele verschiedene Verhaltensweisen gemeint - z.B. das Zupfen, Quetschen, Reiben oder Kratzen der eigenen Haut. Meistens stehen dabei Hautunebenheiten oder Hautunreinheiten im Fokus - manchmal wird aber auch an gesunder Haut gekratzt oder gequetscht.
Am weitaus häufigsten werden dazu die Fingernägel benutzt. Für bestimmte Zwecke (z.B. um ein Bläschen aufzustechen oder eingewachsene Haare zu entfernen), werden aber unter Umständen auch Instrumente wie Nadeln oder Pinzetten eingesetzt.
Generell können alle Körperregionen betroffen sein. Besonders häufig wird die Haut im Gesicht sowie an Armen und Beinen bearbeitet.
Es ist sehr unterschiedlich, wie lange eine einzelne Skin Picking Episode dauert und wie oft die Episoden vorkommen. Das unterscheidet sich nicht nur zwischen Personen, sondern kann auch bei einer Person von Tag zu Tag und je nach Umständen verschieden sein. Eine einzelne Episode kann nur ein wenige Minuten dauern oder sich auch über einige Stunden erstrecken.
Üblicherweise bearbeiten Betroffene ihre Haut vor allem, wenn sie alleine sind. Das Verhalten kann bewusst, aber auch unbewusst auftreten! Die meisten Betroffenen berichten, dass die Finger manchmal ganz automatisch "auf Wanderschaft gehen", um nach Hautunebenheiten zu suchen. Dann beginnt das Skin Picking oft ganz automatisch und unbewusst. Erst nach einiger Zeit wird ihnen das Verhalten dann bewusst.
Umstände: Wann es dazu kommt
Die genauen Situationen sind von Person zu Person natürlich ganz unterschiedlich, aber es gibt einige "Risikosituationen" und Auslöser (auch "Trigger" genannt) die viele Betroffene gemeinsam haben:
Passive Tätigkeiten
- Fernsehen
- Lesen
- Lernen
- Warten
- Telefonieren
- Am PC arbeiten/surfen
- Autofahren
Routinesituationen
- Morgendliche oder abendliche Badroutine
- Zu Hause ankommen
Orte
- Couch
- Schreibtisch
- Badezimmer(-spiegel)
- Andere Spiegel in der Wohnung
Innere Auslöser
- Anspannung, Unruhe, Nervosität
- Langeweile
- starke negative Emotionen (z.B. Angst, Ärger, Wut)
- starke positive Emotionen (z.B. Aufregung, Freude)
Warum sind diese Umstände "Risikosituationen"?
Taktile Reize
Den passiven Tätigkeiten (z.B. Fernsehen, Lesen) ist gemeinsam, dass die Hände nicht beschäftigt sind. Dann kommt es oft zu dem oben beschriebenen automatischen Absuchen der Haut. Dies gilt auch für bestimmte Orte und Körperhaltungen (z.B. am Schreibtisch sitzen und den Kopf aufstützen). Tastsinn und taktile Auslöser spielen hier also eine große Rolle.
Visuelle Reize
Andererseits kommt es an bestimmten Orte oder in bestimmten Situationen zum Bearbeiten der Haut, wenn visuelle Auslöser präsent sind: Also z.B. wenn man sich selbst - und auch seine Hautunreinheiten - im Spiegel sieht. Situationen im Bad sind für Betroffene daher oft schwierig.
Innere Auslöser
Zuletzt spielen innere Auslöser eine große Rolle. Sich die Haare zu raufen oder sich am Kopf zu kratzen, wenn man scharf nachdenkt oder etwa nervös oder aufgebracht ist, kennt jeder. Auch das Nägelkauen als nervöse Angewohnheit ist nichts Neues. Solche auf den eigenen Körper bezogene Verhaltensweisen scheinen eine gewisse beruhigende Wirkung zu haben.
Es kommt also häufig auch dann zum Bearbeiten der Haut, wenn Anspannung oder starke Gefühle empfunden werden. Das Bearbeiten der Haut hilft dann zunächst, die Anspannung zu regulieren und sich abzulenken. Dieser positive Effekt hält aber nur kurz an, da sich nach - und schon während - dem Skin Picking oft Selbstvorwürfe und Schuldgefühle einstellen.
Scham und Schuldgefühle:
Wie man darunter leidet
Schuldgefühle
Betroffene bekommen oft zu hören "Hör' doch einfach damit auf! ... dann sieht Deine Haut auch besser aus!"
Doch so einfach es auch klingt, so vernichtend sind diese Worte. Denn es ist nicht einfach - und der Umstand, dass fast jeder das Bearbeiten der Haut (in Sinne von "mal einen Mückenstich aufkratzen") kennt und es oft einfach nur für eine schlechte Angewohnheit gehalten wird, macht es nur schlimmer.
Meistens durchleben Betroffene diese Gedanken selbst: Sie halten das Skin Picking zu Anfang selbst für eine schlechte Angewohnheit, die sie einfach nicht ablegen können. Sie bearbeiten ihre Haut immer weiter, obwohl sie mit den Konsequenzen leben müssen - und trotzdem können sie es nicht lassen. Die Folge sind große Schuldgefühle und Selbstvorwürfe (z.B. "Du bist zu schwach und undiszipliniert. Wenn Du Dich mehr anstrengen würdest, könntest Du aufhören.")
Wenn Betroffene "einfach aufhören" könnten, würden sie es tun.
Scham
Betroffene bearbeiten ihre Haut üblicherweise dann, wenn sie alleine sind - denn die meisten schämen sich sehr dafür.
Die Angst vor den Reaktionen der Umwelt ist so groß, dass Wunden und Narben oft mit großem Aufwand verdeckt werden - mit Pflastern, Verbänden, Make-up und vor allem auch mit langer Kleidung (selbst bei unerträglich hohen Temperaturen im Sommer).
Die eigene Haut zu verstecken ist aber nicht immer möglich: Schwimmbad- oder Arztbesuche, Familienfeste oder Betriebsausflüge im Sommer, Intimität mit einem/r (neuen) Partner/in. All diese Situationen können zur Herausforderung werden, können Angst machen. Und nicht selten ziehen sich Betroffene deswegen zurück - schweren Herzens lehnen sie Ausflüge mit Freunden ab oder sagen Verabredungen ab, wenn sie sich nach einer Skin Picking Episode nicht im Stande fühlen mit all den Rötungen und Wunden im Gesicht vor die Tür zu gehen.
Selbstwertgefühl
Scham und Schuldgefühle setzen dem Selbstwertgefühl sehr zu.
Dazu kommt oft das Gefühl schwach und undiszipliniert zu sein, weil das Bearbeiten der Haut nicht kontrolliert und nicht "einfach unterlassen" werden kann.
Auch das in Mitleidenschaft gezogene Hautbild belastet das Selbstbewusstsein - Betroffene leiden sehr unter den entstehenden Wunden und Narben.
Ich hoffe, es ist klar geworden, mit welchem Leidensdruck Dermatillomanie einhergeht. Fast alle Betroffenen kennen
Gedanken wie:
- "Ich bin doch selbst daran schuld."
- "Andere werden es eklig finden und mich ablehnen, wenn sie es herausfinden."
- "Was habe ich meiner Haut nur angetan?"
... und man kann sich vorstellen, wie belastend diese Gedanken und Selbstvorwürfe sind. Umso wichtiger ist es, ohne Wertung, dafür aber mit viel Verständnis auf dieses Thema zu reagieren! (Mehr dazu bei den Infos für Angehörige).
Zu ihrem Leben mit Dermatillomanie schreibt eine 32-jährige Betroffene:
J: „Jahrelang quälte ich mich mit dem Aufstehen und dem Blick in den Spiegel, der mit großem Entsetzen über den Zustand meiner Haut einherging. Mit einer dicken Schicht Make-up, teilweise sogar über offene Wunden, ging ich in die Schule und in die Uni. Aber auch das Make-up konnte die Wunden und die Krusten nicht verbergen. Körperteile, die betroffen waren, versteckte ich unter Klamotten. Immer lief ich mit der Angst umher "erwischt" zu werden: es könnte mich jemand auf den Zustand meiner Haut ansprechen und sowieso würden alle meine schlechte Haut sehen und sich einfach nicht trauen, mich darauf anzusprechen. Am schlimmsten war das Gefühl, in all der Zeit, nicht dazu zu gehören. Ich konnte nicht wie die anderen Baden gehen. Oder mich hübsch machen, oder anziehen, was ich wollte. Ich fühlte mich immer hässlich, ausgesondert und den anderen gegenüber benachteiligt. Dieses Gefühl herrschte immer vor – in meiner gesamten Pubertät und im frühen Erwachsenenalter. Während andere unbekümmert in den Tag hinein lebten, hatte ich immer mit demselben unlösbaren Problem zu hadern und das Schlimmste daran war, dass ich selbst daran schuld war. Die Verzweiflung, begleitet von der Frustration und der un-glaublich großen Scham, wuchs mit jedem Tag. Hinzu kam die große Wut auf sich selbst, nicht mit dem Skin Picking aufhören zu können. Vor allem an Geburtstagen war die Verzweiflung sehr groß und die Hoffnung, dass sich die Situation jemals ändern würde, war gleich Null. Und man fügte sich wissentlich Tag für Tag, Jahr für Jahr weitere Schäden hinzu, die womöglich nie wieder verschwinden würden und das alles ohne jegliche Aussicht auf Hilfe.“
Wunden und Narben
Durch das Bearbeiten der Haut kommt es zu Rötungen, Schwellungen, Quetschungen und Verletzungen der Hautoberfläche. Langfristig entstehen entstehen zahlreiche kleinere, aber auch größere Narben, die oft größere Hautareale bedecken.
Generell besteht das Risiko von Wundinfektionen, das bei tiefen Wunden (z.B. auch durch die Verwendung von unsterilen Nadeln) besonders groß ist. Vor diesem Hintergrund wird auch immer wieder auf das Risiko von Blutvergiftungen hingewiesen!.
Es sollte daher unbedingt auf eine korrekte Wundversorgung und gute Wundhygiene geachtet werden. Im Zweifelsfall sollte unbedingt ärztlicher Rat eingeholt werden!
Generell ist eine dermatologische Betreuung zu empfehlen.
Prävalenz: Wie häufig ist Dermatillomanie?
Aktuell wird die Lebenszeitprävalenz* für Dermatillomanie auf 1,4 % geschätzt (Angabe im DSM-5). Das bedeutet, dass schätzungsweise 1,4 % der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens an Dermatillomanie leiden.
Es gibt aber auch Studien, die höhere Punktprävalenzen* berichten (z.B. 5,4 % in einer deutschen Studierendenstichprobe; Bohne et al. 2002). Normalerweise liegt die Punktprävalenz immer unter der Lebenszeitprävalenz - die Zahlen passen also nicht zusammen. Das liegt unter anderem daran, dass die meisten der Studien noch vor erscheinen der offiziellen Kriterien für die Störung durchgeführt wurden. Je nach Studie wurden also unterschiedliche Kriterien angewendet, was als Dermatillomanie "gilt".
Hier wird deutlich, dass noch aussagekräftige Studien nötig sind, um wirklich verlässlich sagen zu können, wie viele Menschen unter Dermatillomanie leiden!
Wo sich die Forschung aber relativ einig ist:
Frauen sind deutlich häufiger von Dermatillomanie betroffen als Männer. Schätzungsweise 75 % aller Betroffenen sind weiblich. Da Frauen aber üblicherweise bei psychischen Problemen öfter Hilfe suchen als Männer, kann diese Zahl auch verzerrt sein!
So oder so: Auch Männer können von Dermatillomanie betroffen sein und verdienen dieselbe Beachtung!
*Erklärung
Punktprävalenz: Wie viele Personen erfüllen die Kriterien zu einem bestimmten Zeitpunkt (z.B. zum Zeitpunkt einer Studie)
Lebenszeitprävalenz: Wie viele Personen erfüllen die Kriterien im Laufe ihres Lebens?
Beginn und Verlauf
Dermatillomanie beginnt am häufigsten im Jugendalter und ist nicht selten mit Hautproblemen assoziiert, die in der Pubertät gehäuft auftreten (v.a. Akne).
Eine Studie berichtet allerdings auch, dass Dermatillomanie auch vermehrt im mittleren Erwachsenenalter (zwischen 30 und 45 Jahren) erstmalig auftritt (Ricketts et al. 2018).
Wenn Dermatillomanie nicht angemessen behandelt wird, kommt es in den meisten Fällen zu einem chronischen Verlauf. Das heißt, dass die Symptome über viele Jahre hinweg bestehen bleiben. Die Häufigkeit und Intensität der Symptome können dabei stark schwanken.
Ursachen
Aktuell gibt es noch kein umfassendes Erklärungsmodell, das allgemein anerkannt wäre. In den letzten Jahren wurden aber einige Studien durchgeführt, um zu untersuchen, welche Faktoren möglicherweise zur Entstehung von Dermatilomanie beitragen.
Hier ein Überblick über einige der untersuchten Faktoren und Studienergebnisse:
Psychische Faktoren
Eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Skin Picking wird dem Thema Emotionsregulation - also dem Umgang mit Emotionen - zugesprochen: Einerseits gibt es Befunde, dass Personen mit Skin Picking verstärkt Schwierigkeiten im Umgang mit Emotionen haben (Snorrason et al., 2010). Andererseits zeigen mehrere Studien, dass Skin Picking häufig genutzt wird, um Stress und Anspannung zu regulieren (Roberts et al., 2013).
Da das Skin Picking zum Abbau von Anspannung führt, wird das Verhalten erst einmal verstärkt (belohnt) und wird so auch auf Dauer aufrechterhalten: Man hat gelernt, dass man damit Anspannung abbauen kann (-> gutes Gefühl) und macht es dann beim nächsten Mal wieder, um wieder Spannung abzubauen. Allerdings hält diese Erleichterung nur kurzfristig, weil durch das Skin Picking auch wieder negative Gefühle (z.B. Schuld, Scham, Ärger) entstehen. Durch die negativen Gefühle kommt es wiederum zu Anspannung und wieder zu Skin Picking - ein Teufelskreis, der oft dazu führt, dass die einzelnen Skin Picking Episoden noch schwerer unterbrochen werden können (Anspannung - Skin Picking - Selbstvorwürfe - Anspannung - Skin Picking ...).
Auf psychischer Ebene wurde außerdem u.a. Impulsivität als möglicher Einflussfaktor untersucht (z.B. Snorrason et al., 2011). Hierzu sind die Ergebnisse aber sehr uneinheitlich, sodass man auch hier keine belastbare Aussage machen kann.
Biologische Faktoren
Genetik
Mehrere Studien legen nahe, dass Skin Picking zu einem gewissen Anteil auch genetisch bedingt sein könnte. Zum einen zeigen sich Skin Picking und andere BFRBs gehäuft innerhalb von Familien, zum anderen weisen auch Zwillingsstudien auf einen genetischen Einfluss hin (Neziroglu et al., 2008; Monzani et al., 2012).
Neurophysiologie
Erste Befunde von MRT Studien weisen darauf hin, dass bei Personen mit Skin Picking im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen eventuell veränderte Gehirnstrukturen und neuronale Aktivierungsmuster vorliegen.
Studienergebnisse (nicht vollständig!):
Roos et al. (2015): beidseitig größeres Volumen des ventralen Striatums und rechts reduzierte kortikale Dicke im frontalen Bereich
Harries et al. (2017): Veränderungen der kortikalen Dicke in der linken Insula und u.a. veränderte kortikale Dicke im linken Gyrus supramarginalis (abhängig von der Skin Picking Schwere)
Schienle et al. (2018a): Reduziertes Volumen der grauen Hirnsubstanz im orbitofrontalen Cortex und der Insula
Schienle et al. (2018b): stärkere neuronale Aktivierung in der Insula und Amygdala, und stärkere Kopplung zwischen Insula und Putamen beim Betrachten von Bildern mit Hautunebenheiten
Die Studienergebnisse beziehen sich jeweils auf Personen mit Skin Picking im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen.
Wichtig: Es wurden bislang noch zu wenige Studien (mit zu wenigen Personen!) durchgeführt, um hier wirklich eine Aussage machen zu können!
Hauterkrankungen
Da Skin Picking oft in der Pubertät (Stichwort Akne) beginnt und Skin Picking verstärkt bei Personen mit Hauterkrankungen auftritt, geht man davon aus, dass dermatologische Erkrankungen einen wichtigen Faktor in der Entstehung von Skin Picking darstellen. Gründe dafür können z.B. sein, dass es einfach "mehr" an der Haut zu bearbeiten gibt (z.B. mehr Pickel, Unreinheiten, Schorf) oder auch, dass Kratzen vermehrt durch Juckreiz ausgelöst wird.
Skin Picking und selbstverletzendes Verhalten (SVV)
Ist Skin Picking nur eine andere Art von selbstverletzendem Verhalten?
Ist Skin Picking mit Verhaltensweisen wie dem sogenannten "Ritzen", oder sich selbst verbrennen bzw. schlagen gleichzusetzen?
Nein, Skin Picking ist nicht gleichbedeutend mit selbstverletzendem Verhalten.
Der Gedanke, dass Dermatillomanie als SVV zu betrachten ist, liegt auf den ersten Blick nahe, weil durch Skin Picking ebenfalls Hautverletzungen entstehen. Vor diesem Hintergrund wurde in einigen früheren wissenschaftlichen Artikeln deshalb auch von "selbstverletzendem Skin Picking" (engl. "self-injurious skin picking") gesprochen. Neben den entstehenden Hautverletzungen haben Skin Picking und SVV außerdem gemein, dass beide Verhaltensweisen zur Spannungsregulation eingesetzt werden - also z.B. bei großer Anspannung auftreten.
Dennoch gibt es wesentliche Unterschiede zwischen Skin Picking und SVV:
Einer der wichtigsten Punkte ist, dass Skin Picking viel stärker automatisiert (unbewusst) stattfindet als SVV. Im Vergleich zu SVV kommt Skin Picking auch seltener im sozialen Kontext vor.
Generell steht bei Skin Picking weniger das Ziel (sich selbst zu verletzen) im Vordergrund, sondern mehr die Handlung selbst (also das Bearbeiten der Haut). Die Hautverletzungen sind eher ein Nebenprodukt des Verhaltens.
Im März 2020 wurde erstmals eine Studie veröffentlicht, die explizit Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen BFRBs (Skin Picking, Hair Pulling, Nail Picking, Nail Biting, Cheek Biting) und SVV untersucht hat (Mathew, 2020):
Im Vergleich zu SVV zeigte sich u.a., dass die BFRB Gruppe das jeweilige BFRB Verhalten ...
- häufiger automatisch (unbewusst) ausführt
- häufiger einsetzt, um Langeweile zu reduzieren oder einen bestimmten äußerlichen Makel zu beseitigen
- seltener aus sozialen Gründen ausübt (z.B. um Aufmerksamkeit zu bekommen) als die SVV Gruppe
- seltener einsetzt, um Anspannung oder Gefühle von Leere zu reduzieren
Die NSSV Gruppe zeigte außerdem deutlich höhere Ausprägungen in Bezug auf Stress, Angst und Depression als die BFRB Gruppe.
Jenseits dieser ersten Studie besteht allerdings noch großer Forschungsbedarf zur genauen Abgrenzung von Skin Picking und selbstverletzendem Verhalten!
Wichtig zu wissen:
Im DSM-5 (neben dem ICD-11 das wichtigste Klassifikationssystem für psychische Störungen), ist "Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten" eine eigenständige Kategorie, die explizit von Dermatillomanie abgegrenzt wird!
Generell gilt:
Jeder Mensch ist unterschiedlich und bringt seine ganz eigene Geschichte und seine eigenen Mechanismen mit. Dass Skin Picking und SVV nicht dasselbe sind, bedeutet nicht, dass es nicht auch Menschen gibt, die unter Dermatillomanie leiden und gleichzeitig auch SVV zeigen.
Literatur
Mathew, A. S., Davine, T. P., Snorrason, I., Houghton, D. C., Woods, D. W., & Lee, H.-J. (2020). Body-focused repetitive behaviors and non-suicidal self-injury: A comparison of clinical characteristics and symptom features. Journal of Psychiatric Research, 124, 115-122.
Recovery bei Skin Picking
Recovery, Heilung, Genesung oder Gesundwerden bedeutet bei BFRBs mehr, als einfach nur das Verhalten einzustellen. Die persönlichen Definitionen und Erfahrungen mit diesem Thema sind so unterschiedlich, wie die Betroffenen selbst.
Deswegen möchte ich auf dieser Seite Betroffenen Platz für ihre Geschichte und die ganz eigenen Gedanken zum Thema Recovery schaffen.
Danke, dass Ihr Eure Geschichten und Gedanken mit uns teilt 🙏
Jacqueline
Ich denke, der zentrale Gedanke, der mir beim Begriff „Recovery“ in den Kopf kommt, ist der, dass ich einen Status erreichen möchte, in dem ich mich und das Skin Picking im Griff habe statt mich so zu fühlen, als hätte die Krankheit mich im Griff. Ich möchte mich dem Skin Picking nicht mehr so ausgeliefert fühlen, sondern eine gewisse Kontrolle gewinnen und ein feines Bewusstsein dafür haben.
Für mich ist das nicht mit dem Anspruch verbunden, die Krankheit zu 100% loszuwerden, als wäre sie nie da gewesen. Davon abgesehen, dass das sowieso nicht möglich und auch gut so ist, weil sie einer der Dinge ist, die mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin, möchte ich lieber den Anspruch verfolgen, damit leben zu können. Das heißt, das Skin Picking soll nur noch möglichst wenig, vielleicht sogar gar keinen, Einfluss auf meine Psyche, mein
Sozialleben und Ähnliches haben.
Ich bin auch nicht davon überzeugt, dass es realistisch ist, wenn man sich als Ziel setzt, wie in Perfektion nie wieder etwas an seiner Haut zu bearbeiten. Zusätzlich könnte ein solcher Gedanke
unnötigen Druck ausüben. Besser und realistischer fände ich es, wenn ich irgendwann so weit bin, dass ich nur noch ein paar Minuten täglich aus einem reinen Hygieneverhalten meine Haut bearbeite. So, wie es unbetroffene Menschen auch tun.
Darüber hinaus möchte ich ein gesundes und wertschätzendes Verhältnis zu mir, meiner Haut und meinen Emotionen erlangen. Ich würde mir in diesem Zusammenhang wünschen, dass ich
das Skin Picking eines Tages nicht mehr zur „Emotionsverarbeitung“ ausführe.
Bei all dem möchte ich stets im Hinterkopf behalten, dass Heilung ein Prozess ist und Fortschritt statt Perfektion das Motto sein sollte. Rückschritte verzeihen zu können, ist eine starke und wichtige Fähigkeit! Der Umgang mit mir selbst sollte da fürsorglich und liebevoll sein.
Der letzte Punkt ist der, dass ich in ferner Zukunft meine Traumata innerhalb einer oder mehrerer Therapien aufarbeiten möchte. Ich bin mir sicher, dass hier einige mögliche Wurzeln des Skin Pickings liegen.
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https://mein-leben-mit-skinpicking.blogspot.com/
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Janika
„Mitten im Winter habe ich schließlich gelernt, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt.“ (Albert Camus, französischer Schriftsteller und Philosoph)
Was ist für mich Recovery? Recovery ist für mich persönlich in erster Linie Selbstakzeptanz und Selbstfürsorge. Dabei fokussiert der Begriff Recovery für mich das individuelle Wachstum und die Fähigkeit, Schönheit in den ganz eigenen Brüchen zu sehen.
Da viele psychische Erkrankungen und somit auch das Skin Picking häufig stigmatisiert werden und in vielen Personenkreisen immer noch auf Unverständnis stoßen, ist Recovery für mich auch immer ein Stück weit Empowerment. Empowerment bedeutet für mich, dass man sich über unangenehme Gefühle und negative Auswirkungen (insbesondere von Diagnosestellungen) emotional hinwegsetzen kann, um einen eigenen Weg für sich zu finden, der sich nicht nach der Länge misst, sondern nach seiner Tiefe.
Ich versuche somit nicht nur die begrenzenden Elemente meiner Erkrankung zu sehen, sondern
insbesondere das, was ich im Rahmen des Skin Pickings schon alles geschafft habe: Ich habe viele wundervolle neue Leute kennengelernt, ich habe die Liebe zum Yoga und Buddhismus entdeckt und ich habe Menschen, die mir nicht guttun und mich nicht vollumfänglich akzeptieren können, aus meinem Leben gestrichen. Ich habe einen Selbstreflexionsprozess in Gang gebracht, durch den ich so viel über mich lernen konnte.
Dadurch, dass ich im Zuge meiner Erkrankung immer wieder an meine eigenen Grenzen gerate, konnte ich gerade diese Grenzen besser kennenlernen und habe schnell gemerkt, dass diese -mehr
als viele andere Anteile und Bereiche in mir- eine hohe Aussagekraft besitzen. Ich habe gelernt, meinen eigenen Wertekatalog zu entwickeln und dass es das wichtigste Lebensziel ist, stets im Einklang mit mir selbst zu handeln. Dass das Leben dabei nicht immer linear verläuft, verbuche ich heute als eine wertvolle Erkenntnis, die ich mir in Form des Malinpfeils auf meinen rechten Fuß tätowiert habe. Wir Menschen sollten unseren Lebensweg ein bisschen mehr wie einen Pfeil sehen, den wir nach hinten spannen, damit er sein Ziel vor uns erreichen kann: Nur, wenn wir Rückschläge erleiden, können wir Fortschritte erzielen.
Somit möchte ich meine Erkrankung nicht als Defizit sehen und erst recht nicht „wegtherapieren“. Ich möchte aber wohl mein Skin Picking noch etwas mehr in den Griff bekommen und die Einsicht
entwickeln, dass ich in mir eine Menge wertvolle Strategien und Ressourcen finde, um genau dieses Ziel erreichen zu können. Dabei können mir auch andere Menschen helfen. Beispielsweise habe ich
sehr positive Erfahrungen in der Selbsthilfegruppe Köln gemacht und durch meine Teilnahme viele neue Menschen, insbesondere Betroffene, kennenlernen dürfen, die allesamt bestrebt sind, einen
liebevolleren Umgang sich selbst und ihrem Körper gegenüber zu entwickeln.
Skin Picking bleibt für mich „janusgesichtig“, es besitzt also zwei Seiten: Auf der einen Seite schränkt es mich ein, auf der anderen Seite verdanke ich meiner Erkankung aber auch eine Menge wertvoller Einsichten und den Mut, immer wieder weiterzumachen.
Genau deswegen möchte ich nicht immer nur die Defizite meiner Erkrankung sehen, sondern auch all ihren Reichtum. Recovery ist für mich die Einsicht, dass das Skin Picking ein Teil meines Lebens ist.
Ich werde kein anderes Leben bekommen, und das ist gut so.
Es gibt gute Tage und es gibt schlechte Tage. Es gibt auch graue Tage. Eigentlich gibt es Tage in allen denkbaren farblichen Abstufungen. Und egal, welche Farbe mein Tag bekommt: Das Skin
Picking ist Teil meiner kleinen Heldenreise!
Ich wünsche auch dir deinen ganz persönlichen inneren Sommer; egal wohin deine Reise auch geht! :)
Deine Janika
Hier geht's zu Janikas Blog:
https://dermaselfloveclub.wordpress.com/
Literatur
Diagnose
American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: DSM-5 (5th ed.). Washington, DC: American Psychiatric Publishing.
World Health Organization. (2018). ICD-11 for Mortality and Morbidity Statistics (ICD-11 MMS) Verfügbar unter: https://icd.who.int/browse11/l-m/en [04.05.2020]
Symptome
Fricke, S. (2013). Dermatillomanie. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 61(3), 175-179.
Odlaug, B. L. & Grant, J. E. (2008a). Clinical characteristics and medical complications of pathologic skin picking. General Hospital Psychiatry, 30(1), 61-66.
Snorrason, I., Smári, J. & Ólafsson, R. P. (2010). Emotion regulation in pathological skin picking: Findings from a non-treatment seeking sample. Journal of Behavior Therapy and Experimental Psychiatry, 41(3), 238-245.
Auswirkungen
Flessner, C. A. & Woods, D. W. (2006). Phenomenological characteristics, social problems, and the economic impact associated with chronic skin picking. Behavior Modification, 30(6), 944-963.
Tucker, B. T. P., Woods, D., W., Flessner, C. A., Franklin, S. A. & Franklin, M. E. (2011). The Skin Picking Impact Project: Phenomenology, interference, and treatment utilization of pathological skin picking in a population based sample. Journal of Anxiety Disorders, 25(1), 88-95.
Prävalenz
Bohne, A., Wilhelm, S., Keuthen, N. J., Baer, L. & Jenike, M. A. (2002). Skin picking in German students: Prevalence, phenomenology, and assosciated characteristics. Behavior Modification, 26(3), 320-339.
Machado, M. O., Köhler, C. A., Stubbs, B., Nunes-Neto, P. R., Koyanagi, A., Quevedo, J. et al. (2018). Skin picking disorder: prevalence, correlates, and associations with quality of life in a large sample. CNS Spectrums, 23, 311-320.
Beginn und Verlauf
Ricketts, E. J., Snorrason, I., Kircanski, K., Alexander, J. R., Thamrin, H., Flessner, C. A. et al. (2018). A latent profile analysis of age of onset in pathological skin picking. Comprehensive Psychiatry, 87, 46-52.
Ursachen
Harries, M.D., Chamberlain, S.R., Redden, S.A. et al (2017). A structural MRI study of excoriation (skin-picking) disorder and its relationship to clinical severity. Psychiatry Research: Neuroimaging, 269, 26-30.
Monzani, B., Rijsdijk, F., Cherkas, L., Harris, J., Keuthen, N. J. & Mataix-Cols, D. (2012). Prevalence and heritability of skin picking in an adult community sample: A twin study. American Journal of Medical Genetics, 159B(5), 605-610.
Neziroglu, F., Rabinowitz, D., Breytman, A. & Jacofsky, M. (2008). Skin picking phenomenology and severity comparison. Journal of Clinical Psychiatry, 10(4), 306-312.
Roberts, S., O’Connor, K., Bélanger, C. (2013). Emotion regulation and other psychological
models for body-focused repetitive behaviors. Clinical Psychology Review, 33(6), 745–762
Roos, A., Grant, J. E. & Fouche, J.-P. (2015). A comparison of brain volume and cortical thickness in excoriation (skin picking) disorder and trichotillomania (hair pulling disorder) in women. Behaviour Brain Research, 279, 255-258.
Schienle, A., Potthoff, J. & Wabnegger, A. (2018a). Voxel-based morphometry analysis of structural brain scans in skin-picking disorder. Comprehensive Psychiatry, 84, 82-86.
Schienle, A., Übel, S. & Wabnegger, A. (2018b). Visual symptom provocation in skin picking disorder: an fMRI study. Brain Imaging and Behavior, 12(5), 1504-1512.
Snorrason, I., Smári, J. & Ólafsson, R. P. (2010). Emotion regulation in pathological skin picking: Findings from a non-treatment seeking sample. Journal of Behavior Therapy and Experimental Psychiatry, 41(3), 238-245.
Snorrason, I., Smári, J. & Ólafsson, R. P. (2011). Motor inhibition, reflection impulsivity, and trait impulsivity in pathological skin picking. Behavior Therapy, 42(3), 521-532.